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Die Kultur
Auszug aus: Weltgeschichtliche Betrachtungen

von Jacob Burkhardt

Kultur nennen wir die ganze Summe derjenigen Entwickelungen des Geistes, welche spontan geschehen und keine universale oder Zwangsgeltung in Anspruch nehmen.
Sie wirkt unaufhörlich
modifizierend und zersetzend auf die beiden stabilen Lebenseinrichtungen [Staat und Religion] ein – ausgenommen insofern dieselben sie völlig dienstbar gemacht und zu ihren Zwecken eingegrenzt haben.

Sonst ist sie die
Kritik der beiden, die Uhr, welche die Stunde verrät, da in jenen Form und Sache sich nicht mehr decken.

Ferner ist sie derjenige millionengestaltige Prozeß, durch welchen sich das naive und rassenmäßige Tun in reflektiertes Können umwandelt, ja in ihrem letzten und höchsten Stadium, in der Wissenschaft und speziell in der Philosophie, in bloße Reflexion.
Ihre äußerliche Gesamtform aber gegenüber von Staat und Religion ist die Gesellschaft in weitestem Sinne.

Jedes ihrer Elemente hat so gut wie Staat und Religion sein Werden, Blühen, d.h. völliges Sichverwirklichen, Vergehen und Weiterleben in der allgemeinen Tradition (soweit es dessen fähig und würdig ist); Unzähliges lebt auch unbewußt weiter als Erwerb, der aus irgend einem vergessenen Volk in das Geblüt der Menschheit übergegangen sein kann. Ein solches unbewußtes Aufsummieren von Kulturresultaten in Völkern und Einzelnen sollte man überhaupt in Rechnung ziehen.

Dies Wachsen und Vergehen folgt höheren, unergründlichen Lebensgesetzen. An der Spitze aller Kultur steht ein geistiges Wunder: die
Sprachen, deren Ursprung, unabhängig vom Einzelvolke und seiner Einzelsprache, in der Seele liegt, sonst könnte man überhaupt keinen Taubstummen zum Sprechen und zum Verständnis des Sprechens bringen; nur durch den entgegenkommenden inneren Drang der Seele, den Gedanken in Worte zu kleiden [... sich mitteilen zu wollen], ist dieser Unterricht erklärlich. [...]

Nach Lasaulx (S. 28) wäre die Reihenfolge in der Kultur die gewesen, daß auf den Bergbau (d.h. irgend einen Grad der Metallbereitung), Viehzucht, Ackerbau, Schiffahrt, Handel, Gewerbe, bürgerlicher Wohlstand gefolgt wären; dann erst wären aus dem Handwerk die Künste und aus diesen zuletzt die Wissenschaften entstanden. Dies ist eine scheinbare Vermengung, indem die einen dieser Dinge ihren Ursprung im materiellen, die anderen im geistigen Bedürfnis haben. Allein der Zusammenhang ist in der Tat ein sehr enger und die Dinge nicht zu sondern. Bei allem mit selbständigem Eifer, nicht rein knechtisch betriebenen materiellen Tun entbindet sich ein, wenn auch oft nur geringer, geistiger Überschuß. Dasselbe Vermögen funktioniert also rasch nacheinander in zweierlei Dienst.

»Das ist's ja, was den Menschen zieret,
Und dazu ward ihm der Verstand,
Daß er im innern Herzen spüret,
Was er erschafft mit seiner Hand.«
(Schillers Glocke)

Und dieser geistige
Überschuß kommt entweder der Form des Geschaffenen zugute als Schmuck, als möglichste äußere Vollendung; – die Waffen und Geräte bei Homer sind herrlich, bevor von einem Götterbilde die Rede ist; – oder er wird bewußter Geist, Reflexion, Vergleichung, Rede – Kunstwerk; – und ehe es der Mensch selber weiß, ist ein ganz anderes Bedürfnis in ihm wach als das, womit er seine Arbeit begonnen, und dieses greift und wirkt dann weiter. Im Menschen ist überhaupt nie bloß eine Seite ausschließlich, sondern immer das Ganze tätig, wenn auch einzelne Seiten desselben nur schwächer, unbewußt.

Ohnehin sind diese Dinge nicht nach der unendlichen Arbeitsteilung und Spezialisierung unserer Zeit zu beurteilen, sondern nach dem Bilde von Zeiten, da noch alles näher beisammen war.

Und endlich ist nicht nötig, für die Entbindung jedes Geistigen einen materiellen Anlaß als Basis aufzufinden, obwohl er sich am Ende fände. Wenn der Geist sich einmal seiner selbst bewußt geworden, bildet er von sich aus seine Welt weiter.

Das Außerordentlichste sind jedenfalls die Künste, rätselhafter als die Wissenschaften; die drei bildenden Künste machen hier keinen Unterschied neben Poesie und Musik.
Alle fünf sind scheinbar entweder aus dem Kultus hervorgegangen oder doch in früher Zeit mit ihm verbunden gewesen, aber doch auch vor ihm und ohne ihn vorhanden. Glücklicherweise sind wir auch hier der Spekulation über die Anfänge enthoben.

Nicht ganz abschließend für die Stellung der Kunst in der Weltkultur sind Schillers »Künstler«. Es reicht nicht, daß das Schöne als Durchgangspunkt und Erziehung zum Wahren dargestellt wird; denn die Kunst ist in hohem Grade um ihrer selbst willen vorhanden.

Die Wissenschaften sind teils die geistige Seite des praktisch Unentbehrlichen und die systematische Seite des Unendlich-Vielen, d.h. die großen Sammlerinnen und Ordnerinnen dessen, was auch ohne ihr Zutun tatsächlich vorhanden ist, – teils dringen sie voran und entdecken dasselbe, sei es Einzelheit oder Gesetz, – endlich versucht die Philosophie die höchsten Gesetze alles Seienden zu ergründen, aber wiederum als auch ohne sie und vor ihr, nämlich ewig, bestehende.

Ganz anders die Künste; sie haben es nicht mit dem auch ohne sie Vorhandenen zu tun, auch keine Gesetze zu ermitteln (weil sie eben keine Wissenschaften sind), sondern ein höheres Leben darzustellen, welches ohne sie nicht vorhanden wäre.
Sie beruhen auf geheimnisvollen Schwingungen, in welche die Seele versetzt wird. Was sich durch diese Schwingungen entbindet, ist dann nicht mehr individuell und zeitlich, sondern sinnbildlich bedeutungsvoll und unvergänglich.
Die großen Alten wußten nichts von uns, und wie weit sie selber an die Nachwelt dachten, mag fraglich bleiben; aber
... »Wer den Besten seiner Zeit genug getan,
Der hat gelebt für alle Zeiten!«

Aus Welt, Zeit und Natur sammeln Kunst und Poesie allgültige, allverständliche Bilder, die das einzig irdisch Bleibende sind, eine zweite ideale Schöpfung, der bestimmten einzelnen Zeitlichkeit enthoben, irdisch-unsterblich, eine Sprache für alle Nationen. Sie sind damit ein größter Exponent der betreffenden Zeitalter, so gut wie die Philosophie. Äußerlich sind ihre Werke den Schicksalen alles Irdischen und Überlieferten unterworfen, aber es lebt genug davon weiter, um die spätesten Jahrtausende zu befreien, zu begeistern und geistig zu vereinigen.

Und hiebei kommt uns Spätem glücklich zu Hilfe unsere restaurierende Fähigkeit, welche aus Fragmenten mit Hilfe der Analogie das Ganze errät. Die Kunst wirkt eben noch im Exzerpt, in der Kontur, in der bloßen Andeutung, ja noch sehr stark im Fragment, seien es antike Skulpturen oder Stücke von Melodien.

 
Von unserer Voraussetzung des Glückes bei den Schaffenden soll später die Rede sein.
Bei den meisten Künsten, selbst bei der Poesie, kann freilich noch der Sachinhalt (das Wünschbare, das Schreckliche, das sinnlich Begehrenswerte) in hohem Grade mitwirken, sowohl auf den Künstler als auf den Betrachtenden. Ja die meisten Leute glauben, die Kunst sei die Nachahmung des physisch Vorhandenen, Einzelnen, Gebrechlichen und eigentlich dazu da, um das, was ihnen aus anderen Gründen wichtig ist, recht eindringlich darzustellen und zu »verewigen«. Glücklicherweise aber gibt es eine Architektur, in welcher sich reiner als sonst irgendwo, und unabhängig von jenem allem, ein idealer Wille ausdrückt. Hier zeigt sich am deutlichsten, was Kunst ist trotz ihrer freilich nicht zu leugnenden großen Abhängigkeit vom Zweck und ihres oft langen Ausruhens auf konventionellen Wiederholungen.

Die Architektur beweist nun, wie frei von jenen stofflichen Nebenabsichten jede andere Kunst ist oder sein kann. Ihre spezielle Parallele hierin ist die Musik, in der das Nachahmende auch gerade das Verfehlteste ist.
Der höchste und früheste Dienst der Künste, dem sie sich ohne Erniedrigung fügen, ist der bei der Religion. Freilich würde sie die Künste nicht immer entwickeln; denn das metaphysische Bedürfnis, das sie vertritt, kann derart sein, daß es sie (wie im Islam) teilweise oder (wie im Puritanismus) gänzlich entbehrt oder sogar anfeindet.

Von allem Irdischen aber nimmt die wahre Kunst nicht sowohl Aufgaben als Anlässe an und ergeht sich dann frei in der Schwingung, die sie daher erhalten. Wehe, wenn man sie präzis auf Tatsächliches festnagelt oder gar auf Gedankliches.
Am lehrreichsten ist hierin die Poesie, welche neues Tatsächliches schafft, lieber als daß sie Vorhandenes erzählt, und in ihrer Art von Gedanken und Gefühlen den höchsten Gegensatz und die höchste Ergänzung zur Philosophie bildet.
Wie würden die Gedanken des äschyleischen Prometheus in der Philosophie lauten? Jedenfalls geben sie uns in der poetischen Darstellung das Gefühl des Ungeheuern.
Innerhalb der Kultur verdrängen, ersetzen und bedingen sich die einzelnen Gebiete. Es findet ein beständiges Hin- und Herwogen statt.

Einzelne Völker und einzelne Epochen zeigen vorherrschende Begabung und Vorliebe für die einzelnen Gebiete. Mächtige Individuen treten auf und geben Richtungen an, welchen sich dann ganze Zeiten und Völker bis zur vollen Einseitigkeit anschließen.

Andererseits kann es für uns sehr schwer zu entscheiden sein, wie weit ein Kulturelement, das für uns jetzt eine ganze Epoche färbt, wirklich damals das Leben beherrscht hat. [Fußnote] Das Philisterium und die Macht haben immer daneben existiert, und wir haben uns in betreff alles geistig Großen in seiner Zeit stets vor optischen Täuschungen zu hüten.

[...]

Quelle: gemeinfreier Text nach einer Ausgabe von 1905
 

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